L. Apel (Hrsg.): Erinnern, erzählen, Geschichte schreiben

Titel
Erinnern, erzählen, Geschichte schreiben. Oral History im 21. Jahrhundert


Herausgeber
Apel, Linde
Reihe
Forum Zeitgeschichte (29)
Erschienen
Berlin 2022: Metropol Verlag
Anzahl Seiten
277 S., 13 SW-Abb.
Preis
€ 22,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Clemens Villinger, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Wie schreibt man eine Rezension über einen Sammelband, der keiner sein sollte? Die eigentlich anlässlich des 30-jährigen Gründungsjubiläums der „Werkstatt der Erinnerung“ (WdE) geplante Vortragsreihe musste aufgrund der Pandemie, wie die Herausgeberin in der Einleitung schreibt, durch eine Publikation ersetzt werden.1 Herausgekommen aus diesem Kompromiss, ist ein erfreulicherweise im Open Access erhältlicher Band, der nicht nur die seit den 1980er-Jahren geleisteten Arbeiten auf dem Feld der Oral History rekapituliert, sondern auch verdeutlicht, wie sich die Methode der Oral History durch den Ausbau von digitalen Infrastrukturen und die Erprobung neuer Forschungsstrategien wie der Sekundäranalyse verändert.2 Insofern stört es nicht, dass die Beiträge eher locker miteinander verbunden sind und – ähnlich wie Vorträge in einer Reihe – auch für sich allein stehen könnten.

Warum Begriffe wie FAIR-Prinzipien (Findable, Accessible, Interoperable, Reuseable) oder Forschungsdatenmanagementpläne in Zukunft zum Standardrepertoire zeithistorischen Forschens gehören werden, verdeutlichen Linde Apel, Almut Leh und Cord Pagenstecher in ihrem Beitrag. Die Autorinnen und der Autor gehören zum Kernteam einer interdisziplinären Projektgruppe, die gegenwärtig die digitale Informationsinfrastruktur „Oral-History.Digital“ (https://www.oral-history.digital/) entwickelt. Diese virtuelle „Erschließungs- und Rechercheumgebung“ (S. 219) dient dazu, sammelnde Institutionen wie etwa außeruniversitäre Forschungsinstitute oder Museen sowie Forschende bei der Archivierung, Erschließung und Bereitstellung von Oral-History-Interviews zu unterstützen. Indem das datenspezifische Repositorium Interviews als Forschungsdaten begreift und entlang der FAIR-Prinzipien organisiert, werden nicht nur neue Oral-History-Projekte bei der Durchführung unterstützt, sondern auch Sekundäranalysen von nicht selbst erhobenen Interviews wesentlich vereinfacht und systematisiert. Mit dem Anspruch, einer behutsamen Etablierung von interdisziplinären Standards bei der Archivierung, Aufbereitung und Zugänglichkeit von Oral-History-Interviews leistet das Projekt für den deutschsprachigen Raum bahnbrechende Pionierarbeit.

Während in sozialwissenschaftlichen Forschungszusammenhängen bereits seit längerer Zeit über die Grenzen und Potenziale der Zweitauswertung von Interviews im Speziellen und Forschungsdaten im Allgemeinen nachgedacht wird, greifen Historiker:innen erst seit wenigen Jahren auf diese Forschungsstrategie zurück. Ein dynamisches Feld, auf dem die forschungspraktische Nachnutzung sowohl von quantitativen als auch von qualitativen Sozialdaten mit verschiedenen Ansätzen und Fragestellungen erprobt wird, ist die zeithistorische Transformationsforschung.3 Diese Arbeiten können einerseits auf methodische Grundlagen zurückgreifen, die im Kontext der Nachnutzung von Oral-History-Interviews zur Geschichte des Nationalsozialismus geschaffen wurden.4 Andererseits entstehen auch neue erkenntnistheoretische Fragen, wie etwa danach, ob und wie sich Sekundäranalysen von halbstrukturierten sozialwissenschaftlichen Interviews aus den 1990er-Jahren von der Zweitauswertung von Oral-History-Interviews unterscheiden. Bedauerlicherweise werden die Sekundäranalysen der zeithistorischen Transformationsforschung in dem Band nicht thematisiert, obwohl dies offensichtlich in der ursprünglichen Anlage der Vortragsreihe geplant war. Diese Leerstelle erklärt sich vermutlich auch durch die Sammlungsgeschichte der „Werkstatt der Erinnerung“, die 1989 von Detlev Peukert an der Forschungsstelle für Zeitgeschichte (FZH) gegründet wurde, um die Stimmen von Opfern und Verfolgten des Nationalsozialismus in Hamburg und Norddeutschland dauerhaft zu sichern.

Anhand eines aus dem Sammlungsbestand der WdE ausgewählten Interviews denken Andrea Althaus, Linde Apel, Lina Nikou und Janine Schemmer über die inhaltlichen Schritte von Sekundäranalysen nach. In ihrem anregenden Beitrag machen die Autorinnen die „Kombination von Kontextanalyse, Hörerlebnis und narrativem Zugang“ (S. 81) als zentrale Elemente dieser Forschungsstrategie aus und betonen die Bedeutung des häufig vernachlässigten Mithörens von Audioaufnahmen als „Schnittstelle zwischen Erst- und Zweitauswertung“ (S. 115). Als Beispiel dient ihnen ein 1993 von Alfons Kenkmann mit dem Hamburger Arbeiter Hellmuth Lasch geführtes Interview. Lasch hatte die NS-Zeit als kommunistisch sozialisierter Mann erlebt und begleitete seit den frühen 1980er-Jahren von der „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes“ (VVN-BdA) organisierte Stadtteilführungen in Hamburg. Anhand des an insgesamt vier Terminen geführten und 450 Minuten langen Interviews können die Autorinnen überzeugend darlegen, wie und warum das Erkenntnisinteresse von Kenkmann und das Erzählinteresse von Lasch immer wieder in Konflikt miteinander gerieten und letztlich zu einem Abbruch des Gesprächs führten. Während die Analyse durch über die Website der WdE zugängliche Audioauszüge des Interviews transparent gemacht wird, wäre es trotz der Entscheidung, „mit einer Stimme zu schreiben“ (S. 85, Fußnote 11), doch spannend gewesen, genauer zu hören, wie und warum sich die Interpretationen der Autorinnen voneinander unterschieden.

Nach den (vermeintlichen) Grenzen von Oral-History-Interviews in Forschung und historischer Bildungsarbeit fragt Stefanie Rauch, indem sie sich mündlichen Quellen von NS-Täter:innen widmet. Ihr Beitrag verdeutlicht zum einen die mediale und methodische Heterogenität von Sammlungsbeständen, welche die Erfahrungen und Lebensgeschichten von Menschen dokumentieren, die während des Nationalsozialismus „Praktiken der Ausgrenzung, Verfolgung, Ausbeutung und Ermordung unterstützt, getragen, ermöglicht oder davon profitiert“ (S. 121) haben. Zum anderen illustriert Rauch am Beispiel der umfangreichen Videointerviewsammlung des britischen Dokumentarfilmregisseurs Luke Holland, wie eine Dichotomisierung von Opfern und Tätern vermieden werden kann, um die unterschiedlichen Grade der Eingebundenheit in Verfolgung, Unterdrückung und Ermordung zu differenzieren. Sie weist darauf hin, dass in der politischen Bildung und Erinnerungslandschaft die Perspektiven von aktiven und passiven Unterstützer:innen des Nationalismus kaum thematisiert werden, sodass dieses Feld weitgehend Filmschaffenden und Journalist:innen überlassen wird. Wie eine Einbindung von diesen bisher unterrepräsentierten Perspektiven gelingen kann, zeigt Rauch anhand der von ihr miterarbeiteten Online-Ausstellung https://compromised-identities.org, die ihren Blick explizit auf Täter:innen und die Mechanismen der Einbindung weiter Bevölkerungsteile in den Nationalsozialismus richtet. Insbesondere die kurzen Ausschnitte aus abgefilmtem Diskussionen unter den an der Ausstellung beteiligten Historiker:innen eröffnen den Besucher:innen einen Zugang zu den Werkstätten der Forschenden und machen die Quellenkritik nachvollziehbarer, als dies üblicherweise der Fall ist.

Die drei Aufsätze über eine digitale Infrastruktur für die Archivierung und Aufbereitung von Oral-History-Interviews, zu den Grenzen und Potenzialen von Sekundäranalysen sowie über den Umgang mit mündlichen Zeugnissen von Täter:innen bzw. Beteiligten werden von dem Protokoll einer Podiumsdiskussion zwischen Alexander von Plato und Dorothee Wierling sowie einem Beitrag von Aleida Assmann zum Verhältnis von Erinnerungskultur und Oral History gerahmt.5 Zudem enthält der Band einen ausführlichen Bericht von Klaus Neumann über die Rolle von Zeitzeug:innen in einer Ausstellung des StadtMuseums Pirna sowie eine historische Bestandsaufnahme der „Werkstatt der Erinnerung“ anlässlich ihres 30-jährigen Bestehens von Linde Apel. Letzterer Beitrag verdeutlicht anhand der Institutionalisierungs- und Sammlungsgeschichte der WdE, dass die Oral History inzwischen als etablierte Methode und Zugang gelten kann und aufgrund der erzielten Erkenntnisgewinne keiner grundsätzlichen geschichtswissenschaftlichen Rechtfertigung mehr bedarf. Allerdings, so Apel, existiere an deutschen Universitäten (mit Ausnahme der FernUniversität Hagen) im Bereich der Oral History kein kontinuierliches Lehrangebot, und auch Handbücher oder didaktische Materialien seien bisher (noch) nicht ausreichend verfügbar. Aus hochschuldidaktischer Sicht erweist sich der unfreiwillige Sammelband insofern als Glücksfall, da er nicht nur angenehm lesbare, in der Lehre gut einsetzbare und leicht zugängliche Einführungen in das weite Themenfeld der Oral History bietet, sondern auch eine kompakte Literaturliste enthält. Insgesamt gelingt es dem Sammelband, eine ausgewogene Balance zwischen bereits bekannten Fragen und neuen Herausforderungen der Oral History im 21. Jahrhundert zu finden.

Anmerkungen:
1 Videomitschnitt der Buchvorstellung: Erinnern, erzählen, Geschichte schreiben – Oral History im 21. Jahrhundert vom 14.06.2022, https://vimeo.com/727288729 (11.11.2022).
2 Open-Access-Version des Sammelbandes: Linde Apel (Hrsg.), Erinnern, erzählen, Geschichte schreiben. Oral History im 21. Jahrhundert, Berlin 2022, https://www.zeitgeschichte-hamburg.de/contao/files/fzh/pdf/apel_erinnern_ebook_offen.pdf (11.11.2022).
3 Vgl. z.B. Marcus Böick, Die Treuhand. Idee-Praxis-Erfahrung 1990–1994, Göttingen 2018; Kerstin Brückweh, Wissen über die Transformation. Wohnraum und Eigentum in der langen Geschichte der „Wende“, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 16 (2019), S. 19–45, https://zeithistorische-forschungen.de/1-2019/5677 (11.11.2022); Clemens Villinger, Vom ungerechten Plan zum gerechten Markt? Konsum, soziale Ungleichheit und der Systemwechsel vom 1989/90, Berlin 2022.
4 Vgl. z.B. Brigitte Halbmayr, Sekundäranalyse qualitativer Daten aus lebensgeschichtlichen Interviews. Reflexionen zu einigen zentralen Herausforderungen, in: BIOS 21 (2008) 2, S. 256–267.
5 Zur Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Oral History – Podiumsgespräch mit Dorothee Wierling, Alexander von Plato und Linde Apel anlässlich des 8. Jahrestagung des Netzwerks Oral History am 27.02.2020, https://lecture2go.uni-hamburg.de/l2go/-/get/v/31347 (11.11.2022).

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